Vinyl-Klassiker Mittwoch by Tom Sieber
Unser Freund Tom Sieber aus Dresden war früher als Indie-DJ unter dem Namen "Le Panic" unterwegs, unter anderem beim großartigen DJ-Team "Poppiloten". Seit 2017 hat er zudem das Siebdrucken für sich entdeckt. Drei seiner Siebdruck-Werke sind übrigens ab heute bei uns im Shop erhältlich.
Wir freuen uns sehr, dass er heute für uns einen fantastischen Gastbeitrag zum "Vinyl-Klassiker Mittwoch" geschrieben hat. Viel Spaß beim Lesen!
Dornröschen und sein Prinz
Wir schreiben damals das Jahr 1986, ich bewege mich irgendwo in meinen 15ern, rasiere mich schon etwa alle 2 Jahre genau 1 Mal und auch musikalisch befinde ich mich in einer ziemlich großen Wolke aus grauer Watte. Man hat mir zu diesem Zeitpunkt im Freundeskreis bereits die ein oder andere 27. Überspielung einer Kompaktkassette mit Depeche Mode und The Cure zugesteckt, aber ich hege nach wie vor nichts Böses daran meinen Großeltern unter Zuhilfenahme von Westradio Schlagerkassetten zusammenzustellen wann immer uns der familiäre Urlaub aus dem heimischen Tal der Ahnungslosen entkommen lässt. Im Januar desselben Jahres komme ich über Freunde in den Genuss eines Tickets für den Dresdner Faunpalast auf der Leipziger Straße; dort soll im Februar ein Engländer namens Billy Bragg spielen, dem scheinbar rund um seinen Auftritt beim Festival des politischen Liedes in der Hauptstadt eine kleine DDR-Tour zurecht gestrickt wurde. So richtig interessant klang was man mir damals über ihn im Vorfeld erzählte alles nicht, in den wenigen Seiten Bravo, die ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte, war auch nichts über Ihn zu finden, aber ich hatte schlicht nichts anderes vor und die coolen Typen der Schule fuhren auch; ALSO! Was dort dann nach der gleichnamigen The Smiths und der Rank von Tape als Vorbandersatz passierte war meine persönliche Zeitenwände, mein (chronologisch falscher) Mauerfall, mein Urknall, mein Erweckungsmoment (nur um hiermit der Überschrift gerecht zu werden). Ab jetzt sollte zumindest musikalisch nichts mehr so sein wie’s mal war.
Zwei Jahre später komme ich erstmals aus persönlichem Antrieb heraus und Dank eigener „Kontakte“ (die wir Vitamin-B wie Beziehungen nannten) zu Bückware, auf Amiga erscheint die hier gleichnamige Platte von Billy Bragg - eine DDR-Lizenzpressung seiner 1986 in England erschienenen „Talking With The Taxman About Poetry“ auf Go! Discs – hier schließt sich der Kreis zum 86er Konzert. Axel Winklers Mama arbeitet damals im RFT-Laden der Stadt - ich muss also nicht einmal Schlange stehen und bekomme Sie nach Hause geliefert; easy! Ich habe ab diesem Tag 2 Schallplatten und einen ziemlich genauen Plan für den Rest meines musikalischen Lebens auch wenn ich immer noch kaum eines seiner Worte verstehe. Wann immer die Platte bis einschließlich heute läuft bin ich wieder 15 und wir setzen uns wieder und wieder über das dort verhängte Tanzverbot der FDJ-Ordnungsgruppe im kinotypisch bestuhlten Faunpalast hinweg. Ich beginne zu diesem Zeitpunkt auch zu begreifen, dass es durchaus Sinn macht des ein oder anderen Wortes der englischen Sprache mächtig zu sein, effizient wie ich bin hatte ich dieses Interesse bis dato aufgrund nicht vorhandener zukünftiger Reiseziele in diesem Sprachraum, sagen wir, aufgeschoben. Im Laufe der Zeit ändert sich das mit den Texten und irgendwann Jahre später ist der eigene musikalische Horizont auch groß genug um selbst in diesem Kontext immer noch feststellen zu können, dass dieses Album nicht nur für mich ein Meilenstein zu sein scheint: „Talking with the Taxman About Poetry“ wurde in das 2005 erschienene Buch „1001 Albums You Must Hear Before You Die“ aufgenommen! Alles in allem schien’s damals also jemand mit mir recht gut gemeint zu haben, dass genau diese Platte von diesem Typen damals auf mich musikalisch noch recht unverdorbenen Bengel traf; 1000 Dank dafür!
Billy Bragg – Billy Bragg (1988, AMIGA)